Der Jesus aus Sibirien: Er hält sich für den wiedergeborenen Heiland – und tausende folgen ihm

Credit: Stanislav Krupar
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Playboy 2020/04

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REPORTAGE

Jesus aus Sibirien: Ein Ex-Polizist behauptet, der wiedergeborene Sohn Gottes zu sein. Tausende sind ihm in Russlands Wälder gefolgt – wir auch

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Ein russischer Ex-Polizist behauptet, der wiedergeborene Jesus Christus zu sein, und schart in den Wäldern Sibiriens seine Anhänger um sich. Tausende Menschen, darunter auch Deutsche, folgen ihm. Wie kann das sein?

Text: Carsten Stormer

An einem sternenklaren Spätsommerabend sitzen zwei Männer bei flackerndem Kerzenschein in einer Blockhütte in der sibirischen Taiga und reden über die bevorstehende Apokalypse. Der Weltuntergang ist ein elementarer Bestandteil ihres Glaubens. Praktischerweise auch die Wiedergeburt. Für Siegfried Werning, 75, ehemaliger Computerspezialist aus Hamburg, hochgewachsen, wallendes Haar, schneeweißer Rauschebart, ist die Sache klar: „Nur diejenigen reinen Glaubens werden wiedergeboren.“ Der Rest der Menschheit, nun ja, eben nicht. Herrmann Friedinger, 74, von Statur eher klein, glatzköpfig und glatt rasiert, sieht das weniger dogmatisch: „Menschen, die nicht glauben, werden auch wiedergeboren, nur eben in einem neuen Körper.“

Siegfried fährt sich mit den Fingern durch seinen Bart, schüttelt den Kopf und widerspricht: „Jene, die nicht den guten Willen aufbringen, eine neue Welt aufzubauen, können nicht dabei sein. Mein Ziel ist, wiedergeboren zu werden, um es mal ganz platt zu sagen.” Dieses Ziel zu erreichen ist harte Arbeit, denn es geht um nichts weniger als die Rettung der Menschheit. Die Bedienungsanleitung dazu steht in einem dicken Buch, das vor Siegfried und Herrmann auf dem Tisch liegt und dessen goldgeprägter Einband im Kerzenschein funkelt: das „Letzte Testament“. Das Evangelium ihres Erlösers, den die beiden Männer nur „den Lehrer“ nennen. Die Fortsetzung des Alten und Neuen Testaments. Der Autor nennt sich Wissarion und sagt, er sei der wiedergeborene Jesus Christus. Jesus lebt also? Siegfried und Herrmann nicken.

Kein Geld, kein Fleisch, kein Alkohol

Willkommen ist bei den Letzt-Testamentlern jeder, der die Bedingungen erfüllt. Der ideale Anhänger muss fünfmal am Tag beten, sich vegetarisch ernähren, selbst versorgen, zahlreich fortpflanzen, auf Alkohol und Geld verzichten. Wer ein Einkommen hat, gibt zehn Prozent an die Kirche ab und 18 Prozent an die Dorfgemeinschaft. Zweimal wöchentlich treffen sich die Gläubigen morgens zu einer Versammlung im Gemeindehaus. Dort werden die Aufgaben verteilt. Die Versammlungen beginnen immer um halb sieben. An diesem Morgen planen sie den jährlichen Höhepunkt, das Sommerfest. An jedem 18. August erinnern sie an Wissarions erste öffentliche Predigt. Diese Woche leiten Siegfried und Herrmann die Treffen. Der eine klingelt zum Gebet, der andere stimmt die Gruppe mit Gesang ein. Anschließend beten sie gemeinsam, halten sich an den Händen und singen Psalmen aus dem Letzten Testament.

Wie Siegfried hatte auch Herrmann sein Erweckungserlebnis während einer Deutschland-Tour Wissarions. Es war im Jahr 2001. Der ehemalige Tiefbauingenieur war so verzückt, dass er Wissarion in seine Wohnung einlud. „Dort spürte ich seine Liebe, und mir war klar: So lieben kann nur Jesus.“ Kurz darauf wanderte er nach Sibirien aus. In Zeiten von Kriegen, politischen Umwälzungen und Klimawandel scheint Wissarions Lehre die Sehnsucht nach einer besseren Gesellschaft in Frieden, Harmonie und Wärme zu erfüllen.

In der Morgenversammlung sagt Siegfried: „Jeder Mensch, der ein bisschen nachdenkt, weiß, dass die sogenannte zivilisierte Welt in dieser Form nicht mehr lange existieren kann. Es gibt kein Wachstum und keine Ausbeutung der Erde ohne Ende.“ Für ihn ist klar: Wissarion ist gekommen, um den Übergang in diese „neue Zivilisation vorzubereiten und womöglich auch durchzuführen“.Der Mann, der 4000 Menschen auf eine neue Zeit einstimmt, residiert in der sogenannten Sonnenstadt, einer Ansammlung von Holzhäusern auf dem Berg Suchaja, dem spirituellen Zentrum der Glaubensgemeinschaft, zwei Autostunden von Wernings Haus entfernt.

Beseelt von Missarion - "Wir sind keine religiösen Spinner", sagt die Kölnerin Anais Spätgens, die mit Eheman Oleg in Sibirien lebt.
Credit: Stanislav Krupar

Eine Audienz bei Wissarion

Nur wenigen ausgewählten Anhängern ist es erlaubt, in der Nachbarschaft Wissarions zu leben. Jesus macht sich rar. Journalisten müssen ihre Fragen vorab einreichen. Werden Fragen und Fragensteller für würdig befunden, schickt Wissarion Zeit und Ort des Treffens über WhatsApp oder Facebook: Mittwoch, elf Uhr vormittags im Garten seines Apostels Vadim auf dem Berg Suchaja. Vadim Redkin, 61, ist ein ehemaliger russischer Schlagersänger. Er ist Wissarions ständiger Begleiter, Sekretär und Biograf. Jedes Wort Wissarions notiert Vadim für die Nachwelt. Eine Art Bibel 2.0, die ständig ergänzt wird. Der Garten des Apostels ist ein schöner Ort, in der Ferne schimmert der Tiberkulsee in der Sonne, am wolkenlosen Himmel kreist ein Adler. Nach einer Stunde erscheint ein Mann, der genauso aussieht, wie man sich Jesus vorstellt: langes, weißes Gewand, gütiger Blick, sanftes Lächeln, lange, ergraute Haare. Ein schöner Mann.

Er setzt sich auf einen Stuhl und stellt sogleich eines klar: „Nicht alle, die sich Gläubige nennen, glauben.“ Manche von ihnen seien gute Menschen und möchten gläubig sein, wären jedoch noch nicht bereit dazu. Der 58-jährige Wissarion hieß früher Sergei Anatoljewitsch Torop, arbeitete als Verkehrspolizist und malte in seiner Freizeit Heiligenbilder. Die Erleuchtung, dass er der Sohn Gottes ist, kam ihm mit 31 Jahren. Und zwar, so hat es Chronist Vadim schriftlich festgehalten, „nachdem er eine Fernsehsendung über Heiligtümer gesehen hatte, die auf Friedhöfen in Russland zerstört und geschändet worden waren“. Vom Kummer ergriffen, habe Sergei gespürt, „wie sich etwas Großartiges in Ihm entwickelte, erwachte und erhob“, heißt es in Vadims Aufzeichnungen, „und aus Seinem Inneren stürmte das Mächtige und warf die Hülle von sich, die bisher dieses Feuer zurückgehalten hatte. Tränen netzten das Antlitz des Menschensohnes. Die vorherbestimmte Erleuchtung hatte sich erfüllt!“

Auch Anais Spätgens und ihr Ehemann ziehen mit anderen Gläubigenam Tag des Sommerfestes zu einer Lichtung im Wald, um Wissarion, den sie wie einen heiligen verehren, zu Gesicht zu bekommen
Credit: Stanislav Krupar

Seine erste öffentliche Predigt hielt Wissarion am 18. August 1991, dem Tag, an dem die Sowjetunion auseinanderbrach. Eine Weltordnung verschwand, und Wissarions Lehre bot Halt. Doch nach 28 Jahren unermüdlichen Predigens verspricht die Zukunft noch immer nichts Gutes. „Ich habe der Menschheit mehr Informationen vermittelt, als sie zuvor jemals bekommen hat“, sagt Wissarion. Aber zu wenige würden seiner Lehre folgen. „Es wird schwer werden, sehr schwer, uns steht eine Art Apokalypse bevor.“

Aber niemand bemerke etwas, weil die Menschen zu sehr mit sich selbst beschäftigt seien. „Etwas will verhindern, dass die Menschen es merken.“ Daran kann selbst Jesus nichts ändern. Schon mehrmals hat Wissarion den Weltuntergang prophezeit. Glücklicherweise wurde der Termin immer wieder verschoben. Die Zukunft bleibt ungewiss. Dafür lebt die Vergangenheit in der Gegenwart weiter. Beispielsweise im Frauenbild. Wissarion sagt: „Eine Ehefrau sollte stets ihrem Mann folgen, sie darf sich nicht ums Geldverdienen kümmern, denn das würde ihren Kopf belasten.“ Beherzige die Frau das nicht, käme es nie zu Harmonie zwischen den Geschlechtern. Damit verabschiedet sich Wissarion, schreitet langsamen Schrittes den Berg hinauf und verschwindet hinter einem Busch.

Seit dem Jahr 2002 ist die „Kirche des Letzten Testaments“ eine offiziell registrierte religiöse Organisation in Russland. Befürchtungen von Sektenbeauftragten, dass es wegen des angekündigten Weltuntergangs zu Massenselbstmorden wie dem Jonestown-Massaker von 1978 kommt, bei dem sich im Dschungel Guyanas 909 Anhänger des Sektenführers Jim Jones umbrachten, hat Wissarion zerstreut. „Wir sind keine religiösen Spinner“, sagt die Kölnerin Anais Spätgens, die mit ihrem Mann und drei Kindern in der kleinen Ortschaft Petropawlowka lebt: ein Café, ein Supermarkt, eine Kirche, ein Gemeindezentrum, in dem dreimal die Woche Salsa getanzt wird, zwei Schulen. Hier leben fast ausschließlich Anhänger Wissarions.

Anais, 36, ist eine schmale, schöne Frau mit Sommersprossen und freundlichem Lächeln. „Das erste Mal habe ich die ‚Einige Familie‘ 1998 besucht, mit meiner Mutter“, sagt sie. „Damals war ich 15 und fand es traumhaft.“ Sie beschloss, die Schule abzubrechen und nach Sibirien zu ziehen. Das Jugendamt erfuhr von ihren Plänen. Am Flughafen wurde sie von Polizisten aufgegriffen und zurückgebracht. Doch sie sparte Geld, machte Abitur an einer Waldorfschule. Mit 19 Jahren wanderte sie nach Sibirien aus. „Ich weiß, dass es richtig war. Die Menschen hier strahlen Liebe aus, und wir arbeiten alle auf ein gemeinsames Ziel hin. Die Botschaft von Wissarion lautet: Seid gütige Menschen.“

Das Leben als Selbstversorgerin ist hart. Im Sommer plagen Hitze, Mücken und Zecken, im Winter die Kälte bei minus 40 Grad Celsius. Kinderbetreuung, Gemüse ziehen, Unkraut jäten, alles hier scheint abzulaufen wie vor 100 Jahren. Hausarbeit ist Frauensache. Immerhin habe ihr Mann ihr eine Waschmaschine geschenkt, sagt Anais, das mache das Leben ein bisschen einfacher. Wenn sie etwas freie Zeit findet, so wie an diesem Nachmittag, besucht sie ihre beste Freundin Christine Büttner, die aus dem brandenburgischen Neuruppin stammt. Christine kam im Jahr 2009 nach Sibirien, sie lebt mit ihrem russischen Mann und ihren beiden Kindern in einer Holzhütte im Nachbardorf Guljaewka, wo sie Gemüse anbaut und Ziegen hält. Ihre Freundschaft, die gemeinsame Sprache und Kultur geben den beiden Frauen Halt in der russischen Taiga. „Wir können auch mal über die Männer lästern“, sagt Christine und fügt ernst hinzu: „Wenn ich Anais nicht hätte, wäre ich nicht mehr hier.“ Den Nachmittag verbringen die Freundinnen am Fluss, tauschen Bücher, Klatsch und Rezepte aus, sehen Christines Kindern beim Planschen im Fluss zu und reden über den bevorstehenden Höhepunkt des Jahres: die Feier in der Sonnenstadt.

"Uns steht eine Art Apokalypse bevor", so Wissarion, bürgerlich: Sergei Torop
Credit:

Der "Heiland" spricht in der Sonnenstadt

Am Morgen des 18. August holt Anais ihre Freunde Siegfried und Petra ab, um gemeinsam mit ihnen das Sommerfest zu begehen und Wissarion endlich wieder zu sehen. Eng gedrängt sitzen sie auf der Rückbank des Geländewagens, der sie auf den Berg Suchaja fährt. Die drei halten sich an den Händen, lachen viel. „Sie könnte unsere Tochter sein“, sagt Siegfried, der zwei erwachsene Kinder in Deutschland hat. Besucht haben sie ihn noch nie, und wenn er davon erzählt, klingt Wehmut in seiner Stimme mit. „Ich fände es schön, sie zu sehen, aber die haben ihr eigenes Leben. Ich denke aber, dass sie meine Entscheidungen in gewisser Weise respektieren.“ Nach zweieinhalb Stunden auf einer holprigen Schotterstraße erreichen sie die Sonnenstadt. Tausende festlich gekleidete Menschen tanzen zu Salsa und russischen Volksliedern auf den Wiesen, klatschen im Takt der Musik. Es gibt Ballett und Operngesang, Volkslieder und Schlager.

Unter den Gläubigen sind viele Schauspieler, Maler, Sänger, Künstler. Vadim, der Apostel und Chronist, trägt ein paar seiner alten Schlagerkracher vor, die Menge himmelt ihn an. Sie alle fiebern auf den großen Moment hin, wenn Wissarion am Abend zu ihnen sprechen wird. Nach Einbruch der Dunkelheit schiebt sich ein langer Zug aus Gläubigen und Priestern von der Festwiese den Berg hinauf, bis sie auf eine Lichtung im Wald gelangen. Die Priester zünden Kerzen an, beten. Ein Chor singt liturgische Lieder. Am Hang steht ein beleuchteter Thron unter einem Baldachin, von dem ein Weg zum Haus Wissarions führt. Siegfried und Petra blicken andächtig zu den Priestern und halten Kerzen in den Händen. Mit einem Mal verstummt die Menge. Aus dem Dunkel des Waldes schält sich die Gestalt Wissarions heraus, ganz in Weiß gekleidet, schreitet er zum Thron, hebt seine Arme wie zum Segen, und es beginnt das sogenannte „Ritual der Verschmelzung“.

In einer Art Meditation versuchen die Anhänger die positive Energie aufzunehmen, die, so glauben sie, von ihrem Meister ausgeht. Völlige Stille legt sich über die Lichtung. Die Menschen schließen die Augen, manche halten sich an den Händen, andere liegen sich in den Armen oder legen den Kopf in den Nacken. Anschließend setzt sich der Lehrer auf den Thron und redet 45 Minuten lang vom Wetter, von Monstern, die es zu besiegen gilt, und davon, dass es schwierig werde, seine Lehre umzusetzen. Zum Schluss versichert er ihnen seine Liebe. Dann verabschiedet er sich. Siegfried ist beseelt: „Ich habe es nie bereut, dass ich hierhergekommen bin. Ich habe auch niemals an ihm gezweifelt. Durch sein Verhalten hat er immer wieder bestätigt: So kann nur Christus handeln.“

Dann stolpert er Hand in Hand mit Petra den Berg hinunter. Auf der Rückfahrt staut sich der Verkehr. Es ist fast Mitternacht, als das Ehepaar müde, aber glücklich mit der Gewissheit ins Bett fällt, dass Jesus zu ihnen zurückgekehrt ist. Nur der Weltuntergang, der lässt noch auf sich warten.