Der Hurrikan-Jäger

Credit: Screendog Production
Magazin
Playboy 2020/06

Inhalt

UPDATE

First Lady: GZSZ-Jubiläums-Star Ulrike Frank

Ein guter Monat für: Grand-Prix- und Speed-Fans

20 Fragen an . . . Don Johnson

Männerreise: Die Gipfel der Alpen-Architektur

Die Reise meines Lebens: Der Kolumnist Harald Martenstein sucht Spuren seiner Vorfahren in Afrika

Motor: Der Alleskönner BMW X5M Competition

Playboy-Umfrage des Monats: Was sind die liebsten Freizeitbeschäftigungen des deutschen Mannes?

REPORTAGE

Der Hurrikan-Jäger: Was der Amerikaner Josh Morgerman im Inneren der gefährlichsten Stürme der Welt sucht – und wie er dort überlebt

INTERVIEW

Patrick Stewart: Der Kino-Star über seine „Star Trek“- Rückkehr mit 79, das Leben mit seiner viel jüngeren Frau und was er an Pitbulls und Cannabis schätzt

Nico Rosberg: Der einstige Formel-1-Pilot und Weltmeister über die Zukunft des Motorsports, des Straßenverkehrs und seine eigene als grüner Investor

MOTOR & TECHNIK

Die Wildkatze: Eine rasante Testfahrt durch Portugal im runderneuerten Jaguar F-Type R

Plötzlich purer Luxus: Auf unserem 2000-Kilometer-Roadtrip sammelten wir Anhalter vom Wegesrand
auf – mit einem Rolls-Royce Dawn Black Badge

Mein Schlitten: Thomas Schwertfirm und sein Fiat 500 Jolly

GRILL-SPECIAL

Feuer frei: Eine Einstimmung zum Grillsaisonstart

Pro & Contra: Nur Kohle zählt – oder geht auch Gas?

Heiße Geräte: Grills für jeden Ort und Typ

T-Bone à la Chef: Steak-Tipps vom Spitzenkoch

Tolle Tools: Das beste Werkzeug für Grillmeister

So grillt die Welt: Kulturenvergleich der Feuerküche

Sechs Bier, bitte: Wir servieren „New Style Pilsner“

Beilagen & Gewürze: Alfons Schuhbeck gibt Nachhilfe

TITELSTRECKE

Nacktaufnahmen statt Notaufnahme: Bei uns trägt Ines Quermann, Star der RTL-Krankenhaus-Serie „Nachtschwestern“, garantiert keinen Kittel ...

EROTIK

Playmate: Miss Juni Jeany Waldheim tankt Kraft für ihren Job als Krankenschwester

Blende Sechs: Wer ist die US-Playmate des Jahres? Alle zwölf! So eine Siegesfeier gab’s noch nie

STIL

Wohnen: Möbel und mehr fürs Sweet Home

Mode: Outdoor-Kombis für alle Wetter

Pflege: So schneidet man seine Haare selbst

STREITSCHRIFT

Gerät schlau, Mensch doof: Unser Autor warnt vor Verblödung durch künstliche Intelligenz

LUST & LEBENSART

Ich rette dich, Baby: Unser Schürzenjäger versucht, als Bademeister Frauen zu beeindrucken

Tagebuch einer Verführerin: Sex-Kolumnistin Sophie Andresky weiß erotischen Rat für die Krise

KULTUR-POOL

Clint Eastwood: 90 Jahre und noch immer kein Clint von Traurigkeit – eine Würdigung des ältesten Haudegens Hollywoods

Literatur, Musik & Serien: Das Beste des Monats

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Wenn alle fliehen, reist der Hurrikan-Jäger Josh Morgerman an und kämpft sich als Beobachter ins Innerste von Wirbelstürmen vor. Zwischen brechenden Bäumen und tödlichen Trümmern sammelt er Bilder und Daten für die Wissenschaft – und Erlebnisse, nach denen er süchtig ist

Text: Marc Bädorf

An einem Samstagvormittag im Februar sitzt Josh Morgerman, 50 Jahre alt, in seinem Büro in einer Nebenstraße in West-Hollywood und hofft darauf, dass sich endlich irgendwo auf dieser Welt ein städtezerstörender Sturm zusammenbraut. Draußen scheint die Sonne, es ist ein fantastischer Vormittag, der Himmel ist hellblau und endlos. Man kann an diesem Tag am Strand liegen und lesen, man kann sich aufmachen in die Berge rund um die Stadt. Man kann aber auch wie Morgerman in einem abgedunkelten Raum sitzen und auf einen Bildschirm schauen, auf dem sich bunte Kringel auf blauem Untergrund voranbewegen. „Das ist ein Computermodell, das die Wetterkarte von Australien zeigt“, sagt er. „Ist das nicht wunderbar?“

Morgerman, der mit seinem Vollbart und den kurzen Haaren deutlich jünger aussieht als 50, greift zur Maus und bewegt sie ein kleines Stück. „Fantastisch“, sagt er und deutet auf einige Kringel, „das Modell prognostiziert einen Wirbelsturm, der sich vom Südpazifik her nähert.“ Er schiebt einen Regler nach oben und lässt das Computermodell berechnen, wie sich die Lage in Australien in den nächsten 18, 36, 72 Stunden entwickeln wird. Langsam krabbeln die Kringel, die immer voluminöser werden, an der Küste entlang. In zehn Tagen soll der Sturm auf Land treffen.

„Das“, sagt Morgerman und grinst wie ein Dreijähriger, der verstanden hat, dass er an Weihnachten auch Geburtstag hat und deswegen doppelt Geschenke bekommt, „könnte meine nächste große Sache werden.“ Josh Morgerman hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Stürme zu jagen. Schon als Kind war der Amerikaner Augenzeuge ihrer Zerstörungswut und blieb fasziniert von den Wetterphänomenen. Später stellte er sich ihnen: eine Art Adrenalinsport. Heute lebt Morgerman davon und dafür, sich durch die zerstörerischen Ringe der weltgrößten Wirbelstürme in deren Mitte, das Auge, durchzukämpfen, um dort Messdaten und Bilddokumente für die Wissenschaft zu sammeln – und Erfahrungen einer gigantischen Gefahr und Naturgewalt. Wie ein Big-Wave-Surfer mit naturkundlichem Interesse. Nur eben einer, dessen Element nicht das Wasser ist, sondern die Luft.

Sobald irgendwo auf der Erde ein großer Wirbelsturm angekündigt wird, wenn Bewohner fliehen und Häuser sturmfest gemacht werden, bucht Morgerman einen Flug. 53 Stürme hat er in seinem Leben schon gejagt, in Mexiko, Japan, Taiwan und Honduras, auf den Philippinen, den Bahamas und natürlich in den USA. Er nennt sich Hurrikan-Jäger, aber er jagt nicht nur die atlantischen und nordpazifischen Hurrikans, sondern auch die südwestpazifischen Zyklone und die nordwestpazifischen Taifune: Sie bezeichnen schließlich alle das gleiche Wetterphänomen, nämlich Wirbelstürme mit Geschwindigkeiten von mindestens 119 Stundenkilometern. Bis zu 340 km/h erreichten die bislang stärksten gemessenen Böen.

Mehrmals ist Morgerman bei seinen Jagden schon fast gestorben. Er hat Tote gesehen, die im trüben, vom Sturm übers Land gespülten Meerwasser durch die Städte trieben. Er hat tagelang im Auto gelebt. Er hat den Geruch von Häusern mit Leichen von dem von Häusern ohne Leichen zu unterscheiden gelernt. Er ist aus Gebäuden geflohen, die kurz darauf zusammenbrachen. Und er hat seine zahlreichen Twitter-Follower einmal drei Tage lang seinen Tod befürchten lassen. Er hat sich gefragt, warum er all das tut, er hat mehrmals ans Aufhören gedacht – und es doch nie getan.

Und so kommt es, dass er heute ohne Frau und Kinder und sonstige Verpflichtungen vor allem für eines lebt: Hurrikans. Im Juni beginnt wieder die Saison in den USA. An diesem Morgen im Februar ist Zyklon-Saison, dafür müsste er nach Australien reisen. Drei Monate hat er nun schon keinen Sturm mehr gejagt. Langsam macht ihn das nervös. Im Dezember 2019 ist er von den Philippinen zurückgekehrt, wo er den Taifun „Kammuri“ verfolgte, seitdem ist es ruhig geblieben auf der Welt. Mal hier vielleicht ein kleiner Sturm, der das eine oder andere Häuschen aus dem Fundament gerissen hat, mal dort vielleicht ein bisschen Hagel, der ein paar Autos zerbeulte. Aber das interessiert Morgerman nicht. Was ihn interessiert, sind die großen Dinger.

Deshalb hatte er bereits vor unserem Treffen in Los Angeles angekündigt: Es sei ja wirklich nett, dass jemand die halbe Erdkugel überfliege, um ihn zu besuchen. Aber eines müsse klar sein: Wenn es in Australien einen Zyklon gebe – und es sei wirklich an der Zeit –, dann müsse er aufbrechen, von einem Tag auf den anderen. Rücksicht könne er keine nehmen. „Chasing“, schrieb er, „always comes first!“ Die Jagd steht an erster Stelle, immer. Jetzt aber muss er sich gedulden. Er schließt das Modell am Computer. Noch ist es zu früh und nicht abzusehen, wie genau sich der Sturm in Australien entwickelt. Ein Hurrikan, Taifun oder Zyklon wird auf dem Meer geboren, wo warmes Wasser verdampft, aufsteigt, auf kalte Luft trifft und so eine Art Sog entsteht, der immer neue Luft von außen ansaugt und nach oben strömen lässt. Die aufsteigenden Luftmassen und die entstehenden Gewitterwolken walzen dann, von Winden und der Erdrotation zu einem Wirbelsturm geformt, über den Ozean.

Der Hurrikan, gewöhnlich bis zu 500 Kilometer im Durchmesser groß, bewegt sich nun tagelang mit dem Tempo eines Radfahrers. Auf dem Weg frisst er sich stärker, irgendwann trifft er auf Land. Er bringt Regen mit, Hagel, manchmal Schnee – aber was wirklich schmerzt, Menschen tötet und Häuser in Dächer und Planken zerteilt, ist der Wind. Dieser Wind hat sein eigenes Geräusch. Er kann klingen wie ein ratternder Zug, ein sich wiederholender stumpfer Schlag oder wie ein endloser gellender Pfiff.

"Die Jagd steht an erster Stelle. Immer"

Josh Morgerman

Wer versucht, in das Innere eines Hurrikans einzudringen, in das Auge, muss sich durch mehrere Ringe kämpfen, in denen der Sturm zunehmend heftig tobt. Bis man die Wolkenmauer erreicht. Dort zeigt der Hurrikan seine ganze zerstörerische Kraft. Der Regen peitscht, Autos fliegen durch die Luft, und die Wolken türmen sich auf zu einer Erscheinung wie aus einem Science-Fiction-Film mit großem Animationsbudget. Hat man diese Wolkenmauer überstanden, wird man belohnt: Im Auge des Sturms, in einem Umkreis von bis zu 45 Kilometern, ist plötzlich alles still, es gibt keinen Wind mehr, keinen Regen, manchmal scheint sogar höhnisch die Sonne auf das, was soeben zerstört wurde. „Für mich ist das magisch“, sagt Morgerman. „Man muss sich das vorstellen: Man kämpft sich durch einen fürchterlichen Sturm, um einen herum fliegt alles durch die Gegend. Und dann ist es plötzlich so friedlich, als hätte es das alles nie gegeben.“

Die Menschen, die sich jemals in so einem Sturm auge befunden haben, lassen sich in zwei Kategorien einteilen: Die einen erinnern sich an die Schrecken der Wolkenmauer und an die Schönheit dahinter und hoffen, nie wieder in einen Hurrikan zu geraten. Die anderen erinnern sich an die Schrecken der Wolkenmauer und an die Schönheit dahinter und hoffen, gleich in den nächsten Hurrikan reinrennen zu können. Zur ersten Kategorie gehören 99,9 Prozent aller Hurrikan-Opfer, zur zweiten ungefähr 15 Menschen, von denen zwei zu anerkannten Sturmexperten geworden sind. Der erste ist ein in Japan lebender Brite. Der andere ist Josh Morgerman.

Es ist Ende August 2019, als Morgerman in den Computermodellen einen Hurrikan entdeckt, der sich dem Süden der USA nähert. Zunächst sieht es so aus, als würde er Florida treffen und nicht ganz so stark werden – Kategorie vier auf der Saffir-Simpson-Skala von eins (ab 119 km/h Windgeschwindigkeit) bis fünf (über 251 km/h). Aber auch vier reicht, um ganze Landstriche zu verwüsten.Morgerman bucht einen Flug nach Florida, er packt seine Sachen, er braucht nicht viel: ein paar Barometer, seine Kamera, dazu T-Shirts, Hosen. Er trägt, wohl aus Eitelkeit, keine Schutzkleidung und keinen Helm. Er jagt im Tanktop.Viele seiner Fans machen ihm das zum Vorwurf, es bewahrt ihn aber immerhin davor, wie ein Außerirdischer zwischen lauter Leuten zu stehen, die im Schlafanzug die Trümmer ihrer Existenz betrachten. Morgerman fliegt also nach Florida, merkt da, dass er auf der falschen Spur ist, bucht einen Flug auf die Bahamas und kommt an einem wunderbaren warmen Abend an. Es sei gewesen, sagt Morgerman, als habe man schöne Vorhänge am Tor zur Hölle aufgehängt.

Keine 24 Stunden soll es nun mehr dauern, bis der Hurrikan, der den Namen „Dorian“ verpasst bekommen hat, die Bahamas niedermähen wird.Morgerman vermutet zunächst, dass das Auge über den Ort Treasure Cay ziehen werde. Mitten in der Nacht stellt er fest, dass er damit danebenliegt: Der Hurrikan bewegt sich nach Osten, Morgerman verlässt Treasure Cay und fährt 20 Meilen in südöstlicher Richtung nach Marsh Harbour, einer 6200-Einwohner-Stadt. Es ist dunkel, vier Uhr morgens, und Morgerman hört den Wind heulen. Der Sturm kündigt sich an.

„Ich ging davon aus, dass der Hurrikan immer stärker werden würde“, sagt Morgerman. „Mir war klar, dass ich das Ganze in einem Hotelzimmer in Marsh Harbour nicht überstehen würde.“Er hört von einer Schule, die aus Beton gebaut ist und auf einem Hügel steht. Dort oben wäre er auch vor der Flut geschützt, die der Hurrikan mit sich bringt. Mit seinem Mietwagen fährt er zur Schule, verschanzt sich zusammen mit zehn Einheimischen in einem Klassenraum. Mit jeder Minute nimmt die Kraft der Winde nun zu. Durch ein Fenster sieht Morgerman, wie es Autos den Kofferraum abreißt, wie sie ineinanderkrachen, ein kontinuierliches Hupen beginnt. Bäume neigen sich dem Boden zu, sie sind kahl, ihre Blätter hat der Wind abgerissen. „Und dann war plötzlich alles weiß“, sagt er.

"Ich bin kein Wissenschaftler, aber ich bin Teil der Wissenschaft. Viele Forscher arbeiten mit meinen Daten"

Josh Morgerman

Eine weiße Wand legt sich vor das Fenster des Klassenraums, Morgerman sieht nicht mal mehr die Autos, die vor der Schule stehen, keine zehn Meter entfernt. Die Wolkenmauer ist da, der Wind schlägt gegen die Jalousien, noch halten die Fenster. Es spricht aber nicht viel dafür, dass sie das noch lange tun. Morgerman weiß, dass die Glassplitter und hereinfliegende Trümmer alle im Raum töten könnten. Mit den anderen Männern schiebt er einen Schrank vor die Fenster, lange werden sie in dem Raum nicht mehr bleiben können. Doch dann, von einem Moment auf den anderen, wird es ruhig. Das Auge!

Der Wind lässt nach, es ist so hell, dass Morgerman geblendet wird. Erst später sieht er auf seinen Videoaufnahmen, wie perfekt dieses Auge ist: ein makelloser Kreis blauen Himmels, umgeben von einer Wand aus Wolken „Ich wusste, dass der Sturm nach dem Auge mit der anderen Seite der Wolkenmauer zurückkommen würde“, sagt Morgerman. „Und ich war mir sicher, dass wir diese Seite in dem Klassenzimmer nicht überstehen würden.“ Er weiß aber auch, dass er sterben wird, falls er draußen in die andere Seite der Wolkenmauer gerät. Was er nicht weiß: wie lange der Wetterfriede des Auges noch anhält. Er braucht einen besseren Unterschlupf. Also rennt er los.

Morgermans Leben ist eines, das sich entlang von Hurrikans erzählen lässt. Er ist sechs Jahre alt, als zum ersten Mal einer über ihn hinwegfegt. Er lebt mit seinen Eltern auf Long Island, einer Halbinsel vor New York, auf der das Leben meistens ziemlich gut und sauber und ordentlich ist. Doch als Morgerman am Morgen nach der Hurrikan-Nacht aus dem Fenster schaut, sieht er Verwüstung: zerrissene Häuser, gebrochene Bäume. „An den Hurrikan selbst erinnere ich mich nicht mehr“, sagt er. „Aber an das Bild des Morgens danach. Es hat mich fasziniert.“

Morgermans Faszination für Hurrikans bleibt. Vor allem ihre Wucht ist es, die er bewundert. Er leiht sich Bücher aus der Bibliothek, saugt alle Informationen auf, die er finden kann. Nach dem Schulabschluss studiert er Geisteswissenschaften in Harvard – aber auch weiterhin alles, was mit Hurrikans zu tun hat. Im August 1991 nähert sich einer der Kategorie zwei Rhode Island, Morgerman packt Bargeld und Klamotten ein, dann macht er sich mit dem Zug auf den Weg. Er kommt bis zur Wolkenmauer, das Auge verpasst er. Es ist seine erste Jagd – und bis zur zweiten wird es noch lange dauern. „Es war damals für mich nicht wirklich vorstellbar, wie ich als Hurrikan-Jäger leben sollte“, sagt Morgerman. Also gründet er, von Harvard mit einem Cum-laude-Abschluss entlassen, eine Marketingfirma und zieht nach Prag, um osteuropäische Unternehmen zu beraten, wie das mit dem Kapitalismus richtig läuft. Der Bedarf ist groß, Morgerman erfolgreich, nur eines fehlt ihm: In Europa gibt es keine Hurrikans.

2005 kehrt er in die USA zurück. Im selben Jahr nähert sich der Hurrikan „Wilma“ Florida – der stärkste atlantische Wirbelsturm, der je gemessen wurde. Morgerman reist hin, er übersteht „Wilma“ in Everglades City, einem Fischerdorf. „Es war großartig. Mir war klar, dass ich nichts anderes lieber mache.“ Morgerman beschließt, sein Leben zu ändern. An erster Stelle sollen stehen: Hurrikans. An zweiter Stelle: alles andere. In den folgenden Jahren schränkt er seine Aktivitäten in seiner Firma ein und jagt einen Hurrikan nach dem anderen. Wenn er das tut, schläft er nicht, isst kaum, vergisst die Zeit. „Ich brauche die Jagd einfach“, sagt er. „Es ist eine Sucht.“Er hat sich darüber Gedanken gemacht, warum das so ist. Seine vorläufige Antwort: weil er in so großer Sicherheit aufgewachsen ist, dass er jetzt Unsicherheit spüren möchte.

Morgerman ist sich bewusst, dass er sein Vergnügen dort findet, wo andere gerade enormes Leid erleben. Der Hurrikan „Dorian“, sagt er, sei für die Menschen auf den Bahamas wirklich fürchterlich gewesen, er habe nachher all das Elend gesehen. Aber – und dann lächelt er – es sei auch ein wirklich fantastischer Sturm gewesen. Ob ihn das wie einen Freak aussehen lasse? Morgerman reist nicht als Helfer in die Wirbelstürme, sondern als Beobachter. Ein paar Regeln hat er sich auferlegt: Falle niemandem zur Last. Nimm keine Hilfe von Polizisten und Sanitätern an. Iss nicht das Essen von Opfern. Klaue ihnen nicht den Schlafplatz. Das ist alles. Mehr tut er nur, wenn jemand vor seinen Augen in wirklich ernsthafte Schwierigkeiten gerät. Seit einigen Jahren führt Morgerman bei seinen Jagden wissenschaftliche Messungen durch, vor allem der Luftdruck im Auge des Hurrikans ist von Interesse. Je niedriger der ist, desto stärker der Sturm. Oft ist Morgerman mit seinem Barometer der Einzige, der diese Daten erhebt.

„Ich bin kein Wissenschaftler“, sagt er. „Aber ich bin Teil der Wissenschaft. Viele Forscher arbeiten mit meinen Daten. Mein Name steht mit einigen anderen über mehreren wissenschaftlichen Artikeln. Mich macht das sehr stolz.“ Das Erheben von Daten gibt Morgerman eine Rechtfertigung, zu Hurrikans zu reisen. Doch was ihn antreibt, ist etwas anderes. Es ist eine Frage: Wird er in drei Tagen noch leben? Als er auf den Bahamas, im Auges des Sturms „Dorian“, das Schulgebäude verlässt, ist es draußen völlig still. Er sieht die Zerstörung: ineinandergeschobene Autos, lose Dachplatten, abgebrochene Bäume. Morgerman schaut auf sein Barometer, es zeigt 913,4 Millibar. Einen niedrigeren Wert hat er noch nie gemessen. „Ich wusste, dass es noch mal schlimm werden würde, wenn das Auge vorbeigezogen war.“ Sein Auto steht vollkommen unbeschadet noch exakt dort, wo er es abgestellt hat. Morgerman startet den Wagen, rast los. Der Himmel ist inzwischen wieder milchig. Es sieht aus, als könnte der Hurrikan jeden Moment zurückkehren. Dann hätte er keine Chance in seinem Auto.

Doch er schafft es bis zu einem Regierungskomplex, der bisher kaum beschädigt ist. Mit Hunderten anderen sucht er Schutz in einem Raum, wenige Minuten später hört er den Wind. Draußen biegen sich die Palmen zum Boden, dann wird wieder alles weiß – es bleibt nur das Geräusch des Windes, das Geräusch, wie Morgerman es beschreibt, eines wütenden Teekessels. „Irgendwann hat es aufgehört“, sagt er. „Ich bin dann aus dem Gebäude raus und habe die nächsten Tage im Auto gelebt.“

Nach drei Tagen macht er sich auf zum Flughafen. Unterwegs sieht er verzweifelte Menschen, Armutsviertel, von denen der Sturm und das Wasser nichts übrig gelassen haben. Ein Militärhubschrauber bringt ihn nach Nassau. Die Hauptstadt der Bahamas ist vom Hurrikan deutlich weniger stark getroffen worden. Dann verlässt er die Insel. „Danach habe ich erst mal eine Pause gebraucht“, sagt Morgerman und wippt in seinem Schreibtischstuhl zurück. Er wirft noch einmal einen Blick auf die aktuelle Lage in Australien. Die momentane Pause braucht er nicht. Drei Tage nach unserem Treffen kommt eine Mail von Morgerman: Der Sturm in Australien sei doch nicht auf Land getroffen, er sei auf dem Wasser geblieben und dort gestorben. Ein Jäger braucht Geduld. Morgerman wird weiter in seinem Büro sitzen und jede Bewegung auf seinen Computermodellen verfolgen. Seine Angst, einen Hurrikan zu verpassen, hat er in Los Angeles gesagt, sei größer als die vor dem Tod. Er meint das wohl ernst.