„Wer Weltmeister werden will, muss sich auch mal fetzen“

Credit: Ralph Penno

Er schoss Deutschland 1990 Weltmeister-Titel, jetzt ist Andreas Brehme im Alter von 63 Jahren in Folge eines Herzstillstands gestorben. Wir blicken zurück auf das letzte Interview mit der Fußball-Ikone, in dem er uns von seinem legendären Final-Elfer und italienischen Nächten mit Lothar Matthäus erzählte.

Dieses Interview erschien erstmals in der Dezember-Ausgabe 2022. 

Ein sonniger Herbsttag in Bardolino am Gardasee. An der Uferpromenade zieht die Touri-Bimmelbahn ihre Runden, zwei Straßen dahinter sitzt Andreas Brehme, 62, blaues Hemd, blaue Hose, weißer Gürtel, auf  der Terrasse eines Altstadt-Cafés und nimmt einen Schluck Aperol Spritz. Vier Jahre lang hat der Mann, der Deutschland 1990 bei der WM in Italien per Elfmeter zum Titel schoss, bei Inter Mailand gespielt. Von 1988 bis 1992. Seitdem liebt er Italien. Und Italien liebt zurück. Vor ein paar Tagen war er beim Ex-Präsidenten von Inter zu einer Feier eingeladen, die „Gazetta“ ruft immer mal wieder wegen eines Kommentars an, und über dem Tresen im Café haben sie Fotos von ihm aufgehängt, die ebendort entstanden sind: Brehme mit Luís Figo, Brehme mit Ronaldinho. Heute ist er aber mit ein paar einheimischen Freunden hier. Sie sitzen ein paar Tische weiter und amüsieren sich prächtig, während er dieses Interview gibt.

„Das sind alles Freunde von mir“, sagt Brehme. „Einer hat heute Geburtstag. Wir essen hier später zusammen. Ist immer eine lustige Runde. Ein paar betreiben Restaurants, einer hat zwei Campingplätze, alles Wahnsinnige. Aber positiv wahnsinnig. Es wird nur über Fußball gesprochen.“

Welche Frage hören Sie immer wieder?

 Also über den Elfmeter zu sprechen, habe ich ihnen schon verboten. Ich sage immer: „Keine Fragen über den Elfer, bitte. Er ist immer noch drin!“

Sind Sie oft hier in Bardolino?

Ich habe seit zwei Jahren eine Wohnung hier. Wenn ich mag, steige ich in den Zug und fahre aus München runter. Ich liebe es. Die Leute, die Mentalität, wahrscheinlich spreche ich heute mehr Italienisch als Deutsch. 

Lothar Matthäus, mit dem Sie in Mailand spielten, hat mal erzählt, Sie beide hätten Ihre ersten Worte Italienisch von Ihren Mitspielern gelernt, die im Trainingslager oft und gern in Ihrem Zimmer zu Gast waren. Dort gab es nämlich Bier. 

(Lacht) Das war im ersten Trainingslager, ja. Ein Freund aus Deutschland besuchte uns dort und brachte Bier mit. Das haben Lothar und ich mit Eiswürfeln in die Badewanne gepackt, und abends kamen dann die Teamkollegen vorbei. Bis Giovanni Trapattoni in der Tür stand. 

Ihr damaliger Trainer bei Inter.   

Der meinte: „Ihr könnt ja Bier trinken, aber nicht die Italiener, die vertragen das nicht!“ Vielleicht hatte er damals recht. Heute trinken die aber mehr als wir, ungelogen, mamma mia! (Schaut rüber zu seinen Kumpels)

Die ganz große Fußballbühne betrat Andi Brehme 1986: mit seinem Wechsel zum FC Bayern, wo er mit dem heutigen Bundestrainer Hansi Flick spielte
Credit: IMAGO

Es war auch Ihr Freund Lothar, der Ihren Wechsel zu Inter damals überhaupt erst auf den Weg brachte, richtig?

Ja, wir kannten uns schon lange aus den Jugend-Nationalteams und spielten damals bei Bayern. 1988 unterschrieb Lothar bei Inter, und sie erkundigten sich bei ihm nach mir. 

Sie standen damals kurz davor, bei Sampdoria Genua zu unterschreiben. 

Der Deal war fast perfekt. Da rief Lothar an: „Hast du schon unterschrieben?“ Ich sag: „Noch nicht, ich muss in zwei Tagen da hin.“ Am nächsten Tag kamen die Inter-Leute mit Giovanni Trapattoni zu mir nach München. Da haben wir gleich den Vertrag fixiert. 

Und dann also Mailand.

Die schönste Zeit meiner Karriere. Jedes Spiel ausverkauft. Wir holten gleich die Meisterschaft, ich wurde zu Italiens Spieler des Jahres gewählt. Die Begeisterung der Leute war unglaublich.

Wie hat sich das geäußert?

Du konntest kaum irgendwo hingehen, weil du überall erkannt wurdest. Aber ich empfand das nie als Belastung. Ich habe damals sowieso allein für den Fußball gelebt. Nur ein einziges Mal war ich an einem Freitagabend weg. Ich hatte Geburtstag, und meine Frau sagte: „Lass uns essen gehen.“ Ich wollte nicht, weil am Sonntag Derby war gegen den AC Mailand. Aber sie bestand darauf. Als wir ins Lokal kamen, war alles in Inter-Farben geschmückt, meine Mitspieler waren da, eine Überraschungsparty. Wir schlugen ganz schön über die Stränge. Am nächsten Tag war um elf Uhr Training. Boahhh, das war schmerzhaft. 

Wie ging das Derby aus?

3:0 für uns. Danach sagten wir: Das machen wir jetzt immer so! Brehmes  Freunde  nebenan  werden kurz laut, jemand ist neu hinzugestoßen. Brehme blickt amüsiert rüber, winkt dem Neuankömmling. Der schnappt sich eine Flasche Weißwein und schenkt Brehme ein Glas ein: „Salute!“ Der hat ein kleines Lokal hier. Da war ich mit Franz Beckenbauer neulich. Ist eine halbe Stunde Fahrerei. Aber der Franz will da immer hin.

Credit: Ralph Penno

Haben Sie viel Kontakt mit ihm?

Ja, wir telefonieren regelmäßig.

Er tritt kaum mehr öffentlich auf. Wie geht es ihm?

Es ging ihm schon besser. Aber es geht ihm auch nicht schlecht. Bald will er wieder hier runterkommen. Dann gehen wir essen. Die ganzen Jungs freuen sich immer, wenn sie den Franz sehen und er mit ins Restaurant kommt. 

Er war ein Kindheitsidol von Ihnen.

Ja. Und dann war er 1984 plötzlich mein Trainer in der Nationalelf. Da stehst du erst mal aufgeregt vor ihm. Wir verloren das erste Spiel gegen Argentinien 1:3. Aber er ließ sich davon nicht irritieren und hat uns danach zu einer echten Mannschaft geformt. 

Wie war er als Trainer?

Eine Respektsperson. Mit klaren Vorgaben. Er hat uns damals schon kurze Zusammenschnitte mit Spielszenen von jedem unserer Gegenspieler gezeigt, alles sehr präzise analysiert und genaue taktische Vorgaben gemacht.

Andreas Brehme im Playboy-Interview: „Wer Weltmeister werden will, muss sich auch mal fetzen“

Beckenbauer war also nicht nur der lässige „Geht’s raus und spielt’s Fußball“-Trainer?

Nein, das geht auch gar nicht, wenn du eine Kabine voller Nationalspieler hast.

Bei der WM in Mexiko 86 erreichten Sie mit ihm als Trainer das Finale gegen Argentinien, was damals eher überraschend war.

Überraschend, aber verdient. Wenn wir im Finale dann bloß nicht so blöd gewesen wären! Du schießt in der 80. Minute den Ausgleich nach einem 0 2-Rückstand und kassierst dann noch das 2 : 3. Wenn es in die Verlängerung gegangen wäre, hätten wir sie überrannt. Die waren kaputt. Aber wenn man die ganze WM betrachtet, hatten die Argentinier damals die beste Mannschaft.

Vor allem hatten sie Maradona. Sie haben oft gegen ihn gespielt. Wie haben Sie ihn erlebt?

Bei Heimspielen durftest du ihn nicht berühren. Da fiel er sofort hin. Auswärts bekam er dafür immer richtig auf die Knochen. Aber was er mit dem Ball konnte, war unglaublich. Er war genial.

Hatten Sie persönlichen Kontakt?

Man hat sich mal getroffen, bei Lothars Abschiedsspiel oder wenn wir für die FIFA unterwegs waren. Er war ein anständiger Kerl. Schade, dass es dann so gelaufen ist. Aber was willst du tun? Du kannst ihn ja nicht anrufen und sagen, hör mal auf mit dem Scheiß. Das müssen seine engen Freunde machen.

Vier Jahre nach dem verlorenen Finale von Mexiko folgte die WM in Italien. Gingen Sie mit dem Selbstbewusstsein ins Turnier: Wir wollen Weltmeister werden?

Man will immer bis zum Schluss bleiben. Das heißt Halbfinale. Und dann gewannen wir gleich das erste Spiel 4:1 gegen Jugoslawien, einen Geheimfavoriten. Da schwebst du auf einer Wolke, die dich weit tragen kann. Die Stimmung in der Mannschaft ändert sich, wird besser, gelöster.

Sein letzter großer Triumph: die Meisterschaft 1998 mit Bundesliga-Aufsteiger Kaiserslautern
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Im Achtelfinale trafen Sie auf Holland. Rijkaard spuckte Völler in die Haare, Sie gewannen 2:1, ein legendäres Spiel. Vom „Hassduell“ wurde später geschrieben.

Ja, dabei konnte von Hass keine Rede sein. Einige von uns waren untereinander gut befreundet. Gullit, van Basten und Rijkaard spielten ja beim AC Mailand. Ich traf mich manchmal zum Golf mit ihnen.

Das Viertelfinale: ein knappes, wenig überzeugendes 1:0 gegen Tschechien.

Danach war der Franz stinksauer, knallte einen Fußballschuh durch die Kabine. Drei Minuten lang war die Stimmung ziemlich angespannt. Dann meinte Sepp Maier, der damals Torwarttrainer war, zu Franz: „Sag mal, weißt du eigentlich, dass wir im Halbfinale sind?“ Darauf der Franz: „Hast auch wieder recht.“ So einen Typen wie Sepp, lustig, ehrlich, auch mal frech, brauchst du in der Mannschaft.

Im Halbfinale schlugen Sie England, dann das Finale gegen Argentinien, der berühmte Elfmeter und die berühmte Frage: Warum schossen Sie und nicht Lothar Matthäus?

Weil er sich nicht sicher fühlte.

Hat er Ihnen das auf dem Platz gesagt?

Nein. Aber als der Elfer-Pfiff kam, ging Lothar nicht nach vorn zum Elfmeterpunkt, sondern zurück. Da sah ich den Franz an. Und der zeigte auf mich.

Und dann stehen Sie da: Finale, 83. Minute, im Tor Argentiniens Elfer-Killer Sergio Goycochea. Was ging Ihnen durch den Kopf?

Jedenfalls nicht, dass ich verschießen könnte. Wir hatten so ein gutes Turnier gespielt, hatten so einen Lauf. Ich war überzeugt, dass ich treffe. Wenn du Zweifel hast, darfst du gar nicht hingehen. Ich nahm mir auf dem Weg zum Elfmeterpunkt auch schon das Eck vor.

Andreas Brehme im Playboy-Interview: „Ich nahm mir auf dem Weg zum Elfmeterpunkt schon das Eck vor“

Warum wählten Sie das linke? Sie hatten beim Elfmeterschießen im Halbfinale gegen England ins gleiche Eck geschossen. Das wusste Goycochea doch sicher.

Mag sein. Ich weiß nicht mehr, warum ich diese Ecke wählte. Wichtig ist, du musst dir vorher ein Eck aussuchen und dir sagen: Da hin, da hin. In dem Moment, als der Ball von meinem Fuß weg war, wusste ich schon: Der ist drin.

Und dann?

Erlösung.

Ihr Tipp für jeden Elfmeterschützen?

Ich habe immer mit dem Franz darüber diskutiert, ob man Elfmeterschießen trainieren kann. Er wollte es üben lassen. Ich sagte, wie willst du einen Elfmeter üben, den du vor 80.000 Zuschauern schießen musst?

Und, haben Sie es bei der WM geübt?

Null. Weil es nicht geht.

Wie wild war die Feier in der Finalnacht?

Am meisten haben wir in der Kabine gefeiert, Helmut Kohl kam rein, wir tranken, tanzten, kamen erst um zwei Uhr ins Hotel. Dort ging es weiter. Morgens um sechs saß ich mit Lothar auf dem Rasen vor dem Hotel, und wir teilten uns ein letztes Bier. Wir hatten noch die Trainingsanzüge an. Ein schöner Moment. Die Sonne geht über Rom auf. Und du bist Weltmeister.

Andreas Brehmes Autobiografie „Beidfüßig“ ist eben bei Aix la Chapelle Books erschienen
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Was, denken Sie, wäre in Ihrem Leben anders gelaufen, wenn Sie damals nicht den Elfer geschossen hätten?

Ich würde nicht täglich darauf angesprochen werden. Aber sonst? Darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht.

Sind so ein Tor und der Ruhm, den es mit sich bringt, auch ein Fluch?

Überhaupt nicht. Du bekommst Werbeverträge. Du musst nur aufpassen, dass du nicht abhebst, einen guten Berater hast und die richtigen Freunde.

2014 machte die Meldung die Runde, dass Sie finanzielle Probleme hätten.

Es ging damals um einen Disput mit einem ehemaligen Geschäftspartner. Den habe ich aber vor Gericht gewonnen. Nur fielen die Zeitungsartikel über meinen Sieg vor Gericht dann sehr viel kleiner aus als vorher diejenigen über den Disput. Aber über so etwas rege ich mich nicht mehr auf. Einer von Brehmes Freunden kommt vom Nebentisch herüber und legt eine Zigarre vor ihm auf den Tisch. Brehme lächelt. „Grazie.“ Womöglich langsam Zeit, ihn zum feierlichen Teil des Tages übergehen zu lassen.

Sprechen wir noch kurz über die kommende WM in Katar: Sie haben Ende der 80er-Jahre mit Hansi Flick beim FC Bayern zusammengespielt. Wie haben Sie ihn damals erlebt?

Ein Arbeitstier. Absolut verlässlich, technisch nicht der Beste, aber zweikampfstark. Und er ist immer marschiert.

Hatten Sie schon damals das Gefühl, er könnte mal Trainer werden?

Nein. Aber menschlich war er schon immer ein Supertyp.

Andreas Brehme im Playboy: „Wie willst du einen Elfmeter übern, den du vor 80.000 Zuschauern schießen musst?“

Macht ihn das heute als Trainer aus, sein besonderer Umgang mit den Spielern?

Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt. Er macht eine gute Ansprache vor der Gruppe, in Einzelgesprächen und gibt den Spielern Selbstvertrauen. Das brauchst du bei so einer WM: Die Mannschaft muss an sich glauben. Und als Gruppe funktionieren. Die Spieler müssen einander schätzen. Aber sie müssen sich auch mal die Meinung geigen können, ohne nachtragend zu sein. Das ist wichtig. Wer Weltmeister werden will, muss sich auch mal fetzen.

Gehört die DFB-Elf für Sie zu den Titel-Favoriten?

Ja. Aber es gibt auch noch Brasilien, Argentinien, Frankreich. Auch die Holländer schätze ich stark ein. Und dann wird es sicher noch ein Überraschungsteam geben. Eine richtige Vorbereitung ist zeitlich ja nicht drin für die Teams. Es kann also sein, dass es vor allem darauf ankommen wird, welche Mannschaft gerade gut in Form ist.

Katar steht wegen Menschenrechtsverletzungen stark in der Kritik. Seit der WM-Vergabe an das Land sollen Tausende Gastarbeiter in Katar ums Leben gekommen sein, auch beim Bau der WM-Stadien. Können Sie sich trotzdem auf das Turnier freuen?

Aus sportlicher Sicht auf alle Fälle. Was das Politische betrifft, kenne ich mich zu wenig aus. Darum möchte ich dazu nichts sagen. Aber grundsätzlich finde ich es schön, wenn Weltmeisterschaften in Ländern stattfinden, in denen es eine gewisse Fußballtradition gibt. Und wenn man das WM-Finale nicht unterm Weihnachtsbaum schaut.